Kims Geschichte

Der englische Schriftsteller Rudyard Kipling (1865-1936) wurde in Bombay/Indien geboren. Seine beiden berühmtesten Bücher sind ‘Dschungelbuch’ und ‘Kim’. In Kim wächst der elternlose Kimball in Indien als Straßenjunge auf. Als Dreizehnjähriger bereist er mit seinem buddhistischen Lehrmeister die heiligen Stätten. Zu Kims Lehren gehören auch Tage des Lernens bei Mister Lurgan, einem Händler. Bei diesem wohnt ein zehnjähriger Hinduknabe, der auf Kim eifersüchtig ist. Mister Lurgan dämpft Kims Überheblichkeit und des Knaben Eifersucht, indem er beide spielen lässt. Hier die Passage aus dem Buch:


“… Aber jetzt ist er hier in der Schule – in einer neuen Madrissah, und du sollst sein Lehrer sein. Spiel das Juwelenspiel gegen ihn. Ich werde nachzählen.
Der Knabe trocknete sogleich seine Tränen und rannte in den Raum hinter dem Laden, von wo er mit einer kupfernen Platte zurückkehrte.
“Gib mir”,
sagte er zu Lurgan. “Lass sie aus Deiner Hand kommen, er könnte sonst glauben, ich hätte sie schon vorher gesehen.”
“Sachte – sachte”,
erwiderte der Mann und streute aus einer Schublade unter dem Tisch eine Handvoll klirrender kleiner Dinge auf die Platte.
“Nun”,
sagte das Hindukind, eine alte Zeitung schwenkend,
“sieh sie dir an, Fremder, solange du willst. Zähle und, wenn nötig, befühle sie. Ein Blick genügt für mich.”
Er drehte sich stolz um.
“Aber wie geht das Spiel?”
“Wenn Du gezählt und gefühlt hast und sicher bist, dass du sie alle im Kopf behalten hast, bedecke ich sie mit diesem Papier, und du musst Lurgan Sahib die Abrechnung machen. Ich schreibe die meinige auf.”
“Oh!”
Wetteifer erwachte in Kim. Er beugte sich über die Platte. Nur fünfzehn Steine lagen darauf. “Das ist leicht”,
sagte er nach einer Minute. Das Kind schob das Papier über die glitzernden Steine und kritzelte in ein Rechnungsbuch, wie es die Eingeborenen gebrauchen.
“Es liegen unter diesem Papier fünf blaue Steine – ein großer, ein kleinerer und drei kleine”,
sagte Kim in vollem Eifer, “vier grüne Steine sind da und einer mit einem Loch; ein gelber Stein, durch den ich hindurchsehen kann, und einer wie ein Pfeifenstiel. Zwei rote Steine sind da und – und – ich hatte fünfzehn, aber zwei habe ich vergessen. Nein! Gib mir Zeit. Einer war von Elfenbein, klein und bräunlich, und – und – gib mir Zeit…” “Eins – zwei -“ Lurgan zählte bis zehn. Kim schüttelte den Kopf.
“Hör meine Rechnung!”
platzte das Kind, bebend vor Lachen, heraus.
“Erstens sind da zwei Saphire mit Flecken – einer von zwei Ruttees (Gewicht) und einer von vier, denke ich. Der Saphir von vier Ruttees ist an der Kante abgebröckelt. Dann ist ein turkestanischer Türkis da, glatt, mit schwarzen Adern, und zwei mit Inschriften – der eine mit einem Namen Gottes in Gold, der andere ist querüber gespalten, weil er aus einem alten Ring ist, deshalb kann ich die Inschrift nicht lesen. Nun haben wir alle fünf blauen Steine. Vier fehlerhafte Smaragde sind da; der eine ist an zwei Stellen angebohrt und der andere ein wenig angeschliffen …”
“Ihr Gewicht?”
fragte Lurgan Sahib gleichmütig.
“Drei – fünf – fünf – und vier Ruttees, denke ich. Dann ist ein Stück von altem grünlichen Bernstein da und ein geschliffener Topas aus Europa. Ein Rubin von Burma, ohne Fehler, zwei Ruttees, und ein Balasrubin, fehlerhaft, zwei Ruttees. Ein geschnitztes Stück Elfenbein aus China, eine Ratte darstellend, die ein Ei aussaugt, und zum Schluss ist da – ah, ah! – ein runder Kristall, so groß wie eine Bohne, in ein goldenes Blatt gefasst.”
Er klatschte zum Schluss in die Hände.
“Er ist dein Meister”, sagte Lurgan Sahib lächelnd.
“Huh! Er kann die Namen der Steine”,
sagte Kim errötend.
“Versuch es noch einmal! Mit gewöhnlichen Dingen, die uns beiden bekannt sind.”
Sie füllten die Platte wieder mit allerhand Krimskrams, den sie aus dem Laden und sogar aus der Küche zusammensuchten, und jedesmal gewann der Knabe zu Kims größter Verwunderung.
“Binde mir die Augen zu, lass mich nur einmal mit den Fingern fühlen, und auch dann sollst Du, mit offenen Augen, hinter mir zurückbleiben”, forderte er Kim heraus.
Kim stampfte vor Ärger mit dem Fuß, als der Knabe wirklich gewann.
“Wären es Menschen oder Pferde”, rief er,
“so würde ich es besser machen. Dieses Spiel mit Zangen und Messern und Scheren ist zu gering.”
“Lerne erst – lehre später”, sagte Lurgan Sahib.
“Ist er Dein Meister?”
“Sicherlich. Aber wie wird’s gemacht?”
“Indem man es so oft macht, bis man es gut macht. Es ist wert, dass man es lernt.”

 

Literatur

Rudyard Kipling: Kim. Deutsch von Hans Reisinger, dtv/List, München, 1981.

Stand: 14.05.2021